Der wirtschaftliche Verfall im Laufe der Zeitgeschichte
Was haben ein Antrag auf die Eröffnung des Privatinsolvenzverfahrens und ein hanseatischer Kaufmann aus dem Mittelalter gemeinsam? Abgesehen davon, dass dazwischen mehrere Jahrhunderte zeitliche Luftlinie liegen – erstaunlich viel. Der besagte Protagonist heißt Hildebrand Veckinchusen, ein Lübecker Kaufmann aus dem 14. Jahrhundert, der durch gewagte Geschäfte schlussendlich für mehrere Jahre wegen horrender Forderungen seiner Gläubiger im Schuldturm in Brügge einsitzen musste, bis Freunde die erforderliche Summe aufbrachten, um ihn aus der Haft freizukaufen.
Wieso wir das wissen? Seine Korrespondenz mit seinem Bruder umfasst 500 Briefe und ist neben den hinterlassenen Handelsbüchern ein einzigartiges Zeugnis des Lebensalltags eines mittelalterlichen Kaufmanns.
Bedeutung für heute
Die Zeitbrücke in die heutige Zeit wird ersichtlich, wenn wir uns bewusst machen, dass der Geschäftsmann und Fernkaufmann vollends mit seinem Privatvermögen haften musste, anders als dies teilweise durch juristische Personen, der Fall ist. Und so haben er und sein wirtschaftlicher Verfall, der auch die Verelendung seiner Familie nach sich zog, doch einiges mit der heutigen Zeit gemeinsam. Doch anders als damals stehen privaten Haushalten heute viele Instrumente offen, um die eigen- oder fremdverschuldete Zahlungsunfähigkeit zu überstehen – ohne dabei an den wortwörtlichen Bettelstab zu geraten.
Rückblick
Antike und Mittelalter
Doch werfen wir noch einmal einen kurzen Blick in den Rückspiegel der Geschichte. Zu allen Zeiten spaltete sich die Gesellschaft in zwei Lager: Arm und Reich. In der Antike, zum Beispiel in Griechenland, mussten die mittellosen Menschen quasi ohne eine soziale Absicherung ihr Dasein fristen. Im Mittelalter hingegen galt eine Person als arm, welche ihre Existenz nicht sichern konnte und weder über Schutz noch Macht verfügte. Dabei wurde die Armut im Verhältnis zur Abhängigkeit gesehen.
Hilfe für die Armen wurde zu Anfang durch die Familie übernommen, also im rein privaten Rahmen, später in den Städten durch Zünfte, religiöse Bruderschaften und dergleichen. Durch die Mitgliedschaft wurde eine Unterstützung gewährleistet. Verbindungen und Zugehörigkeit zu einer Gruppe spielten somit eine entscheidende Rolle beim wirtschaftlichen Überleben.
Industrialisierung
Wagen wir einen Zeitsprung in die Zeit des Industriekapitalismus, hier änderte sich die Situation für die Armen sehr rasch und die Bevölkerungsentwicklung und Produktionsentfaltung gingen immer weiter auseinander, was Massenelend zur Folge hatte. Die aus dem Mittelalter übernommenen Hilfeleistungen, insbesondere durch Kirchen und das Almosen, waren nicht mehr ausreichend. Diesem Phänomen musste daher durch nachbarschaftliche Hilfe entgegengewirkt werden, solange diese überschaubar blieb und den Geber selbst nicht in die finanzielle Not brachte, entfaltete sie die richtige Wirkung.
Krieg als Armut verstärkender Faktor
Neben diesen Faktoren waren zu allen Zeiten bis teilweise bis in die Moderne und Gegenwart Krieg und die damit verbundenen Nöte Ursachen, die rasch zu einem wirtschaftlichen Verfall der unteren bis mittleren Bevölkerungsgruppen führten und bis heute noch führen: Plünderungen und Hungersnöte wie im 30-jährigen Krieg, Ernteausfälle, Unfälle, Seuchen, Erkrankung wie auch der Tod des Ernährers der Familie, in der damaligen Gesellschaft hauptsächlich Männer.
So herrschten in der Bundesrepublik Deutschland in den späten 1940er-Jahren Hunger und Not durch den verlorenen Krieg. In den Städten verschärfte sich das Problem zusätzlich durch eine große Wohnungsnot. Rund sieben Millionen Menschen waren damals obdachlos. Es mangelte an Gegenständen des täglichen Bedarfs, an Heizmittel und an Kleidung. Auch wenn der Krieg in Deutschland glücklicherweise schon seit 75 Jahren vorbei ist und Deutschland eine enorme wirtschaftliche Entwicklung, über die Wirtschaftswunderjahre bis zum heutigen Tag als stärkste Wirtschaftsnation Europas durchgemacht hat, begleitet uns das Phänomen des wirtschaftlichen Verfalls privater Haushalte bis heute.
Verschuldungsursache Konsum
So verzeichnete die Statistik für das Jahr 2019 86.838 Privatinsolvenzen. Doch wo liegen nun die Ursachen für eine drohende Überschuldung privater Haushalte? Mit Ernteausfällen, Krieg oder ähnlichem als Ursache für wirtschaftliche Not kann man dem hier nicht argumentativ begegnen – zumindest nicht mehr in diesem Ausmaß.
Die sich aufdrängende Antwort auf diese Frage lautet kurz: Konsum. Denn die Verlockungen der Überflussgesellschaft vermitteln den Eindruck, dass jeder, unabhängig seines finanziellen Rahmens, sich alles zu jeder Zeit leisten kann. Marketinginstrumente und Slogans nachfolgender Couleur geben davon Eindruck – Null-Prozent-Finanzierung, sofort kaufen und später zahlen.
Mit diesen und vielen weiteren Offerten lockt die Werbung die Konsumenten und macht letztlich Konsumware, für welche die eigenen Finanzen im Augenblick nicht genug Reserven hergeben, scheinbar erschwinglich. Die vermeintliche Investition wie ein neues Smartphone oder TV-Gerät, die aufgrund des raschen technischen Fortschrittes bereits nach wenigen Semestern, durch noch hippere und bessere Modelle ersetzt werden und den eigenen Erwerb im Wert erheblich mindern, schlägt eher als Verbindlichkeit zu Buche. Die Kaufsumme muss weiterhin oft auch noch in minimalen Raten auf einen im Wert fallenden Artikel über mehrere Monate oder gar Jahre hinweg abgestottert werden.
Weitere moderne Verschuldungsgründe
Verschärft wird das Problem oft vonseiten der Banken, die ihre Kunden mit Shopping-Kreditkarten oder sogenannten Revoling-Kreditkarten anlocken, bei denen die Zinsen auf die Verschuldung oft um die 20 % rangieren. Neben den vorgenannten Akteuren versprechen auch andere die Leichtigkeit des Seins, indem sie ohne Prüfung der SCHUFA und Bonität für in die Klemme geratenen Personen Kredite anbieten – und sich dabei als die heilbringenden Finanzsanierer titulieren. Natürlich wollen auch sie das Beste für den Verbraucher: nämlich sein Geld.
Kommen zum oben genannten Szenario noch mehr solcher Kaufentscheidungen hinzu und verliert die oder derjenige seine Arbeitsstelle oder gerät aus sonstigen Gründen in die finanzielle Klemme, so dauert es nicht allzu lange und ein privater Haushalt gerät in die Zahlungsunfähigkeit. Somit gilt neben dem leichtgläubigen Konsum auch die Arbeitslosigkeit als Hauptursache für Überschuldung privater Haushalte.
Lage in Deutschland heute
In Deutschland sind ca. 4,17 Millionen volljährige Personen dauerhaft überschuldet. Die Höhe des Schuldenberges liegt im Durchschnitt bei rund 35.000 Euro pro Person. Das geht aus dem „Schuldneratlas 2016“ der Wirtschaftsauskunftei Creditreform hervor. Die Gründe für eine Überschuldung sind in der Tat mannigfaltig. In den meisten Fällen beruht die Überschuldung auf externen Umständen wie Arbeitslosigkeit.
Aber auch weitere Gründe sind mitursächlich:
- Unfall oder Erkrankung
- Sucht
- längerfristiges Niedrigeinkommen
- Trennung
- Scheidung
- Tod des Partners bzw. der Partnerin
- unwirtschaftliche Haushaltsführung
- übermäßiger Konsum
Also anders als in den vergangenen Jahrhunderten ist die wirtschaftliche Lage mancher Privatpersonen hausgemacht. Doch der freie Fall ist zumindest in der Bundesrepublik Deutschland und der wirtschaftliche Aufprall bei weitem nicht mehr so hart wie früher oder in anderen Ländern.
Denn durch die in dem Jahr 1999 durch das Insolvenzrecht abgelöste Konkursordnung, wurde in dieser ebenfalls auch das Verbraucherinsolvenzverfahren geregelt. Ein Novum folgte dabei mit der Restschuldbefreiung. Sie ermöglichte erstmals überschuldeten Personen, am Ende einer Wohlverhaltensperiode vom Rest ihrer Schulden befreit zu werden. Seit Inkrafttreten der zweiten Reform der Insolvenzordnung ab dem 1. Juli 2014 ist ein solcher Schuldenerlass unter bestimmten Bedingungen bereits nach drei Jahren möglich.
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