Zwischen den Stühlen

Schadensersatzansprüche in der Wirecard-Insolvenz als Insolvenzforderungen anerkannt

In einem richtungsweisenden Zwischenurteil vom 17. September 2024 zu dem Aktenzeichen 5 U 7318/22 e, hat das Oberlandesgericht (OLG) München entschieden, dass Schadensersatzansprüche von getäuschten Aktionären im Zusammenhang mit der Insolvenz der Wirecard AG als Insolvenzforderungen gemäß § 38 Insolvenzordnung (InsO) anzusehen sind. Diese Einstufung ist entscheidend für die Frage, ob und in welchem Rang diese Forderungen bei der Verteilung der Insolvenzmasse berücksichtigt werden.

Einordnung der Forderungen und ihre Bedeutung im Insolvenzverfahren

Die Einordnung von Forderungen im Insolvenzverfahren ist von großer Bedeutung für deren Berücksichtigung bei der Verteilung der Insolvenzmasse. Gemäß § 38 InsO gehören zu den Insolvenzgläubigern diejenigen, die einen Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben, der vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet wurde. Hierzu zählen insbesondere Arbeitnehmer, Lieferanten und Fremdkapitalgeber wie Banken, deren Forderungen nicht durch Sicherheiten gedeckt sind. Diese Gläubiger haben Anspruch auf eine Teilnahme an der Schlussverteilung.

Im Gegensatz dazu stehen Gesellschafter, deren Forderungen aus ihrer Stellung als Mitglieder der Gesellschaft herrühren. Solche Ansprüche werden in der Regel nicht als Insolvenzforderungen betrachtet und fallen gemäß § 199 Satz 2 InsO lediglich in den Bereich der Überschussverteilung, der meist nur theoretisch relevant ist, da selten ein Überschuss nach Begleichung der Gläubigerverbindlichkeiten verbleibt. Ein Gesellschafter kann jedoch als Drittgläubiger behandelt werden, wenn er außerhalb seiner Gesellschafterrolle Rechte aus einem gesonderten Schuldverhältnis gegen die Gesellschaft hat. Solche Ansprüche sind grundsätzlich als Insolvenzforderungen nach § 38 InsO zu qualifizieren, können aber gemäß § 39 InsO nachrangig sein. Zu den nachrangigen Forderungen gehören gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO beispielsweise Rückzahlungsansprüche aus Gesellschafterdarlehen.

Schadensersatzforderungen der Wirecard-Aktionäre: Der Rechtsstreit

Im Rahmen der Insolvenz der Wirecard AG wurden kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche von etwa 50.000 Aktionären im Umfang von 8,5 Milliarden Euro angemeldet. Diese Aktionäre hatten ihre Anteile auf Grundlage falscher oder irreführender Informationen erworben. Insgesamt belaufen sich die angemeldeten Forderungen der Gläubiger auf etwa 15,4 Milliarden Euro, während die Insolvenzmasse derzeit rund 650 Millionen Euro beträgt. Die zentrale Frage war, ob die Schadensersatzansprüche der Aktionäre als Insolvenzforderungen nach § 38 InsO eingestuft werden können oder ob sie lediglich als Ansprüche im Rahmen der Überschussverteilung gemäß § 199 S. 2 InsO zu behandeln sind.

Das OLG München entschied nun, dass die geltend gemachten Schadensersatzansprüche der Aktionäre als Insolvenzforderungen nach § 38 InsO zu qualifizieren sind. Dabei stellte das Gericht fest, dass diese Ansprüche nicht unmittelbar aus der Aktionärsstellung resultieren, sondern vielmehr als Drittgläubigerrechte zu betrachten sind. Grundlage dieser Entscheidung ist die Erkenntnis, dass der Schaden der Aktionäre bereits in der sittenwidrigen Täuschung beim Erwerb der Aktien liegt und somit zeitlich vor der eigentlichen Aktionärsstellung liegt. Das Gericht berief sich dabei auf Urteile des Bundesgerichtshofs (BGH) und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die ebenfalls Schadensersatzansprüche von getäuschten Anlegern als Forderungen gegenüber solventen Gesellschaften anerkannt hatten. Diese Entscheidungen wurden vom OLG München auf den Insolvenzfall übertragen.

Unionsrechtlicher Effektivitätsgrundsatz und Rechtsfolgen

Die Beurteilung des OLG München stützt sich auch auf den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz, wonach das Recht der Europäischen Union eine wirksame Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gewährleisten muss. Das Gericht sah keine Notwendigkeit, diese Frage dem EuGH vorzulegen, da es die eigene Auslegung als im Einklang mit dem Unionsrecht stehend betrachtete.

Das Urteil hat erhebliche Konsequenzen für die beteiligten Aktionäre. Als Insolvenzforderungen nach § 38 InsO können ihre Ansprüche zumindest anteilig bei der Verteilung der Insolvenzmasse berücksichtigt werden. Dies ist insbesondere deshalb bedeutsam, weil nachrangige Forderungen gemäß § 39 InsO in der Praxis kaum Aussicht auf eine Befriedigung haben. Eine Einordnung der Aktionärsforderungen in den sogenannten „Nach-Nachrang“ gemäß § 199 S. 2 InsO, wie vom Insolvenzverwalter zunächst argumentiert, wurde vom OLG München ausdrücklich abgelehnt. Das Gericht wies darauf hin, dass eine solche Einordnung zu Ungereimtheiten und Widersprüchen führen würde. Ferner lehnte das Gericht eine analoge Anwendung von § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO ab. Diese Vorschrift betrifft Rückzahlungsansprüche aus Gesellschafterdarlehen, doch das OLG München stellte klar, dass der Erwerb von Aktien auf dem Sekundärmarkt keine Finanzierungswirkung für die Gesellschaft hat und daher nicht unter diese Regelung fällt.

Aussicht auf BGH-Entscheidung und Bedeutung für zukünftige Fälle

Der Insolvenzverwalter hat angekündigt, das Zwischenurteil des OLG München im Wege der Revision durch den Bundesgerichtshof (BGH) überprüfen zu lassen. Es bleibt abzuwarten, ob der BGH die Entscheidung des OLG München bestätigt oder zu einer abweichenden Rechtsauffassung gelangt. Eine endgültige Klärung dieser Rechtsfrage wird frühestens im kommenden Jahr erwartet.

Das Zwischenurteil des OLG München schafft für die betroffenen Aktionäre der Wirecard AG und künftige vergleichbare Fälle eine wichtige Rechtsklarheit. Die Frage, ob Schadensersatzansprüche getäuschter Anleger als Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO gelten, wird damit erstmals höchstrichterlich geklärt. Sollte der BGH die Entscheidung des OLG München bestätigen, wird dies die Position von Anlegern in Insolvenzverfahren erheblich stärken.

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