Der nachfolgend vorgestellte Fall liest sich wie die Biografie eines Vielreisenden mit exklusivem Terminkalender, Berlin im Frühling, Monaco im Sommer, Saint-Barthélemy im Winter, zwischendurch ein Abstecher nach Los Angeles. Dazu Aufsichtsratssitzungen in einer deutschen Aktiengesellschaft, Beteiligungen an monegassischen Firmen, Vermögensverwaltung über mehrere Kontinente hinweg. Ein Leben zwischen Business Class und Boardroom. Doch eines Tages klingelt es – nicht an der Suite-Tür, sondern bildlich gesprochen beim Finanzamt. Die Frage ist so schlicht wie brisant: Wo ist eigentlich Ihr wirtschaftliches Zuhause?
Genau um diesen „Ort der Wahrheit“ ging es im Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 6. Februar 2025 zum Aktenzeichen IX ZB 35/22. Dabei ist die Entscheidung mehr als eine Anekdote aus dem Jetset-Leben – sie ist eine Grundsatzbestimmung für die internationale Zuständigkeit bei Insolvenzen selbständiger Personen. In der Sprache der Insolvenzjuristen heißt dieses Zuhause Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen, oder auch COMI (Centre of Main Interests). Die EU-Insolvenzverordnung (EuInsVO) regelt in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3, dass bei selbständig Tätigen vermutet wird, dass der COMI am Ort der Hauptniederlassung liege – sofern dieser für Dritte erkennbar ist.
Wo liegt der wirtschaftliche Mittelpunkt?
Deshalb stellte der BGH mit seinem Urteil klar, dass die Vermutung unabhängig davon gelte, ob dort Personal beschäftigt oder nennenswerte Vermögenswerte vorhanden sind. Maßgeblich für die Standortbestimmung sei, wo die wirtschaftlichen Interessen tatsächlich gesteuert werden – und das aus Sicht der Gläubiger, nicht aus dem Selbstbild des Schuldners, vgl. hierzu Erwägungsgrund 28 EuInsVO.
Im konkreten Fall verdiente der Schuldner sein Geld mit Aufsichtsratsmandaten und Auslandsbeteiligungen. Das Amtsgericht Charlottenburg erklärte sich für unzuständig – zu unklar sei der Mittelpunkt. Das Landgericht Berlin widersprach dem Ganzen. Der BGH stoppte das ganze Hin und Her und fragte den Europäischen Gerichtshof (EuGH) um Rat.
EuGH stärkt Gläubigerrechte
Eine Hauptniederlassung erfordert weder Angestellte noch physische Vermögenswerte vor Ort. Entscheidend ist, ob der Ort, an dem die wirtschaftlichen Interessen gebündelt werden, für Gläubiger objektiv erkennbar ist, folgte als eindeutige Antwort aus dem Gerichtssaal des EuGH zu der gestellten Frage.
Der BGH folgte dieser Linie und ergänzte, dass wer eine selbständige Tätigkeit geltend mache, ein unternehmerisches Risiko tragen müsse. Ein Aufsichtsratsmandat mit fixer Vergütung, ohne eigenen Einfluss auf Einnahmen und Ausgaben, sei, wie hier, eher ein sicherer Posten als ein unternehmerischer Drahtseilakt. Da das Landgericht nicht ausreichend festgestellt hatte, woher die Einkünfte stammen, wie die Vermögensstruktur aussieht und wo die Beteiligungen tatsächlich verwaltet werden, ging der Fall schließlich zurück.
Welche Kriterien entscheiden über den COMI?
Liegt keine selbständige Tätigkeit im unionsrechtlichen Sinne vor, greift Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 EuInsVO – und der COMI bestimmt sich nach dem gewöhnlichen Aufenthalt.
Mit seiner Auslegung stärkt der BGH die Rechtssicherheit. Gerichte müssen nicht mehr mühsam ermitteln, wo eine selbständige Person den Schwerpunkt ihrer Geschäftsinteressen verfolgt – sie können vom Ort der Hauptniederlassung ausgehen, solange keine überzeugenden Gegenbeweise vorliegen. Für Gläubiger bedeutet es, dass die Zuständigkeit leichter feststellbar ist. Für Schuldner wiederum sind weniger Möglichkeiten, durch Standortwechsel oder minimale Präsenz Einfluss auf das Verfahren zu nehmen.
Besonders relevant ist dies in grenzüberschreitenden Fällen. Wer seinen Wohnsitz in Spanien, aber seine Hauptniederlassung in Deutschland hat, fällt nach dieser Linie in der Regel in die Zuständigkeit deutscher Gerichte – selbst wenn hier nur geringe Vermögenswerte vorhanden sind.
Für die Praxis heißt das:
- Gläubiger sollten bei internationalen Sachverhalten gezielt prüfen, wo der COMI ihrer Schuldner tatsächlich liegt.
- Schuldner sollten ihre Geschäftstätigkeiten so dokumentieren, dass der Ort der Hauptniederlassung nachvollziehbar ist – fehlende Transparenz kann im Verfahren schnell nachteilig werden.
Insbesondere sollten Selbstständige eine klare Dokumentation ihrer zentralen Geschäftsaktivitäten und Zahlungsströmen führen. Diese kann im Streitfall ausschlaggebend für die Zuständigkeit sein.
Der COMI als juristisches Navigationssystem
Es zeigt sich, dass der COMI kein Gepäckstück ist, das man beliebig zwischen Monaco und Berlin hin- und hertragen kann. Er ist der Ort, an dem der wirtschaftliche Puls schlägt – gemessen aus Sicht der Gläubiger. In einer Welt, in der Vermögen und Wohnsitze global verteilt sind, ist der COMI das juristische Navigationssystem, das den Kurs eines Insolvenzverfahrens bestimmt. Wer diese Koordinaten kennt, kann Stürme umschiffen – oder sie gezielt für sich nutzen.
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