Zwischen den Stühlen mit gezinkten Karten
Die rechtliche Einordnung der Schadensersatzansprüche getäuschter Wirecard-Aktionäre war lange umstritten und wurde im September 2024 durch das Oberlandesgericht München in eine Richtung gelenkt, die den Anlegern erstmals Hoffnung auf eine Beteiligung an der Insolvenzmasse machte. Dieser Weg wurde in Teil 1 unseres Blogartikels vom 18.10.2024 „Zwischen den Stühlen“ ausführlich beschrieben (https://kanzlei-braun.net/zwischen-den-stuehlen/): Das OLG qualifizierte kapitalmarktrechtliche Erwerbsschäden als einfache Insolvenzforderungen nach § 38 InsO – ein bedeutsamer, aber vorläufiger Zwischenschritt. Doch die entscheidende Weichenstellung erfolgte nun mit dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 13. November 2025 (IX ZR 127/24). Mit dieser höchstrichterlichen Entscheidung hat der BGH endgültig klargestellt, dass die Erwartungen der Aktionäre nicht erfüllbar sind: Ihre Forderungen sind insolvenzrechtlich nachrangig, weil sie untrennbar mit der Aktionärsstellung verbunden sind. Damit wird die zuvor vom OLG geöffnete Tür wieder geschlossen – und zwar eindeutig und endgültig.
Spektakulärer Fall mit Milliarden Forderungen
Die Insolvenz der Wirecard AG bildet eines der spektakulärsten Restrukturierungs- und Abwicklungsverfahren der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Die Dimension des Falles ist beispiellos: Zahlreiche Anleger meldeten Schadensersatzforderungen in Höhe von insgesamt rund 8,5 Milliarden Euro an, die zusammen mit den anderen Gläubigerforderungen 15,4 Milliarden Euro überschritten. Die Insolvenzmasse betrug dagegen nur etwa 650 Millionen Euro – eine Größenordnung, die selbst bei großzügigster Schätzung kaum Raum für die Befriedigung nachrangiger Forderungen lässt. Nach dem OLG-Urteil sahen viele Geschädigte dennoch eine rechtliche Grundlage, um zumindest anteilig an der Verteilung der Masse teilzunehmen. Der Kern der Diskussion bestand darin, ob die wegen Täuschung beim Aktienerwerb geltend gemachten Schadensersatzansprüche den Status von Fremdkapitalforderungen im Sinne des § 38 InsO haben oder ob sie wirtschaftlich gesellschafterähnliche Ansprüche darstellen, die erst nach Befriedigung sämtlicher übriger Gläubiger zu berücksichtigen sind.
Der BGH schafft endgültige Klarheit
Der BGH hat nun entschieden, dass die insolvenzrechtliche Rangordnung keinerlei Zweifel zulässt. Schadensersatzansprüche, die auf kapitalmarktrechtlichen Täuschungen beim Erwerb von Aktien beruhen, entstehen ausschließlich aufgrund der Teilnahme am Eigenkapital der Gesellschaft. Sie können daher nicht als Forderungen verstanden werden, die der Gesellschaft wie Fremdkapital zur Verfügung standen oder aus einem Drittverhältnis resultieren. Vielmehr handelt es sich um Ansprüche, die wirtschaftlich darauf gerichtet sind, eine fehlgeschlagene Investition rückgängig zu machen. Diese strukturelle Nähe zur Gesellschafterstellung ist entscheidend: Der Aktionär trägt das Risiko seiner Beteiligung, und im Insolvenzfall bedeutet dies, dass er gegenüber allen Fremdkapitalgläubigern zurücktritt.
Klare Rangfolge in der Insolvenzordnung
Der Bundesgerichtshof betont, dass die Insolvenzordnung eine klare und zwingende Rangfolge vorgibt. Sie unterscheidet strikt zwischen Forderungen, die aus externen wirtschaftlichen Beziehungen entstehen, und solchen, die ihren Ursprung in der Gesellschafterrolle haben. Dass Anleger die Aktien nur aufgrund bewusst unwahrer oder irreführender Informationen erworben haben, ändert an dieser Einordnung nichts. Die Täuschung betrifft das Kapitalmarktrecht, nicht aber die insolvenzrechtliche Struktur. Der BGH macht unmissverständlich deutlich, dass der Zweck des Rechtsgeschäfts – der Erwerb einer Beteiligung – ausschlaggebend ist und nicht durch den Umstand der Täuschung „umqualifiziert“ wird. Das Insolvenzverfahren dient primär dem Schutz der Fremdkapitalgeber und der geordneten Verteilung der Masse; eine Ausweitung dieses Schutzes auf die Ebene der Eigenkapitalgeber würde das System der Insolvenzordnung unterlaufen.
Mit dieser Entscheidung setzt der BGH nicht nur einen Kontrapunkt zur OLG-Rechtsprechung, sondern stellt gleichzeitig die insolvenzrechtliche Systematik wieder in den Mittelpunkt der Betrachtung. Auch die unionsrechtlichen Aspekte, die das OLG München zur Stützung seiner Entscheidung herangezogen hatte, entfalten nach Auffassung des BGH keine durchschlagende Wirkung. Weder der Effektivitätsgrundsatz noch kapitalmarktrechtliche Schadensersatzmechanismen gebieten es, Aktionären im Insolvenzverfahren eine Gleichstellung mit Fremdkapitalgläubigern einzuräumen. Entscheidend ist allein, dass die Insolvenzordnung ein geschlossenes Rangsystem vorgibt, das nicht aufgrund kapitalmarktrechtlicher Besonderheiten durchbrochen werden darf.
Deklaratorische Wirkung der Forderungsanmeldungen
Für die Praxis bedeutet dies eine klare und ernüchternde Prognose: Die angemeldeten Schadensersatzansprüche der Wirecard-Aktionäre werden zwar formal zur Tabelle eingetragen, haben aber wirtschaftlich keine Aussicht auf Befriedigung. Die Insolvenzmasse reicht nicht annähernd aus, um auch nur einen Bruchteil der einfachen Insolvenzforderungen zu befriedigen. Erst recht bleibt für nachrangige Ansprüche kein Spielraum. Die aufwändigen Forderungsanmeldungen und Prüfungsverfahren führen damit zu einem rein deklaratorischen Ergebnis. Der Fokus der Anleger verschiebt sich zwangsläufig auf die Verantwortlichkeit Dritter – etwa ehemalige Organmitglieder, Wirtschaftsprüfer oder Berater –, deren Inanspruchnahme außerhalb des Insolvenzverfahrens möglich bleibt.
Fazit: BGH stärkt Systematik des Insolvenzrechts
Im Ergebnis setzte der Bundesgerichtshof mit seinem Urteil vom 13. November 2025 ein klares und richtungsweisendes Zeichen. Er bestätigt, dass die Insolvenzordnung auch in kapitalmarktrechtlich geprägten Konstellationen konsequent anzuwenden ist und dass die Interessen der Fremdkapitalgläubiger Vorrang vor denjenigen der Eigenkapitalgeber haben. Die Entscheidung verdeutlicht, dass Renditechancen und Verlustrisiken untrennbare Bestandteile einer Beteiligung sind – und dass ein Insolvenzverfahren keine Plattform ist, um fehlgeschlagene Investitionen über die Masse zu kompensieren. Für die Wirecard-Aktionäre ist damit die letzte juristische Hoffnung, aus der Insolvenzmasse entschädigt zu werden, endgültig erloschen. Zugleich schafft die Entscheidung wichtige Rechtsklarheit für zukünftige Fälle, in denen kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche mit insolvenzrechtlichen Grundsätzen kollidieren.
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