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In Voltaires satirischen Roman Candide oder die beste aller Welten wendet sich der Autor gegen eine optimistische Weltanschauung Gottfried Wilhelm Leibniz’. Als der die beste aller möglichen Welten wendet, stellt er diesem Lebensentwurf den Skeptizismus und Pessimismus entgegen.

Übertragen auf das Rechtssystem in Deutschland und die durch das Statistische Bundesamt erhobene Studie aus dem Jahr 2022 zu dessen Wahrnehmung durch die Bürger, könnte man zunächst zu dem Schluss gelangen, dass zunächst der Skeptizismus und Pessimismus durch die überwiegende Mehrheit der Befragten geteilt wird. 

Laut den Aussagen tendieren 80 % dazu, die lange Dauer von Verfahren zu monieren. Direkt danach mit 75 %, sind die Befragten der Auffassung, dass die Gerichte mit viel zu viel Arbeit überlastet sind. Rund 56 % halten die Gesetze für zu kompliziert, sodass sie für die Normalbevölkerung nicht mehr nachvollziehbar erscheinen. Weitere 54 % halten die Rechtsprechung für uneinheitlich und das Strafmaß von dem jeweils zuständigen Gericht abhängig. Diese Aussagen werfen zunächst kein positives Licht auf das deutsche Rechtssystem – aus diesem Grund wollen wir anhand von einigen Beispielen aufzeigen, dass das hiesige Rechtssystem möglicherweise nicht als das beste aller Welten durchaus kritisiert werden kann, jedoch in vielerlei Hinsicht über Aspekte verfügt, die zum Teil in der Welt Anklang und Nachahmung finden. 

Zunächst entwickelte sich das Rechtssystem europaweit gleich. Deutschland führte jedoch bis heute Schrift für Schritt qualitätssteigernde Änderungen ein, die weltweit ihresgleichen suchen. Der Normalbürger und damit der normale Rechtsratsuchende in Deutschland weiß von der hohen Qualität des Deutschen Rechtssystems nichts, da er den Vergleich mit dem Ausland nicht führen kann. Kleine Änderungen im deutschen Rechtssystem haben aber – auch im Vergleich zu unseren direkten Nachbarn Österreich und Schweiz – eine signifikante Qualitätssteigerung herbeigeführt. Diese Artikelreihe soll aufzeigen, welche Entwicklung das deutsche Rechtssystem durchlebt hat und welche Maßnahmen zu einer signifikanten Qualitätssteigerung unseres Rechtssystems geführt haben.

Die Anfänge des europäischen Rechtssystems

Bis zum 14. Jahrhundert war die rechtliche Bildung in Deutschland keineswegs formalisiert. In den frühen mittelalterlichen Klosterschulen zwischen 500 und 1050 wurde Rechtswissen eher als Bestandteil der allgemeinen Bildung behandelt, neben Fächern wie Rhetorik, Dialektik und Grammatik. Nur in einigen wenigen italienischen Universitätsstädten war das Studium des Rechts eine Voraussetzung für die Übernahme richterlicher Aufgaben. Interessanterweise wurde die Qualifikation für ein solches Studium nicht durch akademische Grade nachgewiesen, sondern allein durch den Besitz der wichtigsten Rechtsbücher.

Im Grunde genommen brauchte man keinen akademischen Grad, um als Richter, Notar oder Lehrer an Bildungseinrichtungen tätig zu sein. Die Anfänge einer formalen juristischen Ausbildung können im Übergang vom 11. zum 12. Jahrhundert an der Universität Bologna ausgemacht werden. Die Lehren des römischen Rechts, wie sie von Irnerius vermittelt wurden, wurden derart hoch angesehen, dass sie sich rasch über ganz Europa verbreiteten.

Juristische Bildung nur im Kirchenrecht

Die Anfänge der akademischen juristischen Bildung waren zunächst auf das Kirchenrecht beschränkt. Ab 1385 boten die Universitäten in Heidelberg und ab 1388 in Köln die Möglichkeit, sich in diesem Bereich auszubilden. Bald darauf wurde auch das Studium des römischen Rechts eingeführt. Ab 1392 konnte man dies in Erfurt tun, ab 1402 in Würzburg, ab 1409 in Leipzig, ab 1419 in Rostock, ab 1456 in Greifswald und Freiburg, ab 1459 in Basel, ab 1472 in Ingolstadt, ab 1473 in Trier und ab 1477 in Mainz und Tübingen. Interessanterweise gab es bis zum frühen 19. Jahrhundert keine speziellen Zulassungsvoraussetzungen für diese Universitäten.

Die ersten Maßnahmen zur Qualitätssteigerung – eine moderne Juristenausbildung

Die moderne juristische Ausbildung in Deutschland hat ihre Wurzeln größtenteils in der preußischen Juristenausbildung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Diese einflussreiche Ausbildungsform fand in vielen anderen Ländern Nachahmung, da es zu jener Zeit keine einheitlichen rechtlichen Standards gab.

Im Jahr 1869 wurde das „Gesetz über die juristischen Prüfungen und die Vorbereitung zum höheren Justizdienst“ in Preußen erlassen, was zu einer tiefgreifenden Umgestaltung der juristischen Ausbildung führte. Fortan mussten angehende Juristen eine Zulassungsprüfung für den Vorbereitungsdienst, das sogenannte Referendariat, bestehen und anschließend eine Abschlussprüfung ablegen, um die Befähigung zum Richteramt zu erlangen. Der vorherige Ausbildungsabschnitt, die „Auskultatur“, wurde abgeschafft. Das Referendariat erstreckte sich nun über einen Zeitraum von vier Jahren.

Um zur Zulassungsprüfung zugelassen zu werden, war ein mindestens dreijähriges Universitätsstudium erforderlich, wobei mindestens drei Semester Rechtswissenschaften belegt sein mussten. Die Prüfung für das Referendarexamen umfasste eine sechswöchige Hausarbeit und eine mündliche Prüfung. Während dieser Zeit wurde auch die Methode des „Gutachtenstils“ als Herangehensweise zur Lösung von Fällen eingeführt.

Einführung schriftlicher Klausuren und praktischer Übungen

Ab dem Jahr 1877 stellte die herausragendste reichsrechtliche Bestimmung § 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes dar. Diese Regelung etablierte die zweiphasige Ausbildung, die das Referendariat und das Assessorexamen umfasste. Ab 1908 wurde das Referendarexamen um drei schriftliche Klausuren erweitert, und seit diesem Jahr waren auch drei praktische Übungen eine Voraussetzung für die Zulassung zum Referendarexamen.

Die Assessorprüfung bestand aus einer sechswöchigen schriftlichen Hausarbeit, einer sechswöchigen schriftlichen Relation und einem mündlichen Aktenvortrag. Im Jahr 1893 folgte Preußen dem Beispiel von Österreich (1891) und Bayern (1892) und fügte dem Referendariat außeramtliche Übungskurse hinzu, die seit 1912 verpflichtend waren. 1920 wurde die Vorbereitungszeit auf drei Jahre verkürzt.

Das Gesetz über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege vom 11. Juli 1922 (RGBl. Nr. 51 vom 21. Juli 1922, S. 573 f.) ermöglichte Frauen den Zugang zum Richteramt und zu anderen Berufen in der Rechtspflege, wie Amtsanwältin, Gerichtsschreiberin und Gerichtsvollzieherin.

Vom ersten Staatsexamen zur ersten Prüfung

Seit 2003 wurde das traditionelle „Erste Staatsexamen“ im juristischen Studium an den Universitäten durch die „erste Prüfung“ ersetzt. Diese erste Prüfung umfasst sowohl einen staatlichen Prüfungsteil (Pflichtfachprüfung, der 70 % der Gesamtnote ausmacht) als auch einen universitären Teil (Schwerpunktbereichsprüfung, der 30 % der Gesamtnote ausmacht). Aufgrund dieser Veränderung kann sie nicht mehr ausschließlich als reines „Staatsexamen“ angesehen werden.

Während des anschließenden zweijährigen Referendariats sammelt der angehende Jurist die erforderliche praktische Erfahrung für die Ausübung seines Berufs. Wer die „Zweite Staatsprüfung“ in Deutschland erfolgreich ablegt, erlangt die Qualifikation zum Richteramt und wird im Volksmund als „Volljurist“ bezeichnet. Zudem kann er die Zulassung als Rechtsanwalt erlangen.

Allerdings ist auch noch lange nicht Schluss mit der juristischen Ausbildung, je nach der Notenlage oder Interesse kann der Jurist, wenn nicht bereits im Referendariat erworben, noch einen Doctor Juris nachschieben oder einen LL.M um sich und seine Fähigkeiten im Markt zu positionieren. 

Der nächste wesentliche Schritt zur Qualitätssteigerung – Die Fachanwaltstitel

Darüber hinaus ist es möglich oder gar notwendig, einen Titel als Fachanwalt zu erwerben, um sein juristisches Profil noch mehr zu schärfen. Angesichts der Vielzahl der am Markt aktiven Anwälte – ein sinnvoller Schritt, denn zum 1.1.2023 waren insgesamt 165.186 Rechtsanwälte (Vorjahr: 165.587) zugelassen, davon 60.572 (Vorjahr: 60.057) Rechtsanwältinnen. Dies bedeutet insgesamt zwar einen Rückgang von 0,24 % bei den Zulassungen, allerdings ist diese Zahl im Vergleich zu anderen Ländern in der EU noch hoch, weshalb der Erwerb eines Titels als Fachanwalt sicherlich von Vorteil ist. 

In Deutschland ist der Titel „Fachanwalt“ eine geschützte Bezeichnung, die von Rechtsanwälten geführt werden darf, wenn sie besondere Expertise und Erfahrung in einem spezifischen Rechtsgebiet nachweisen können, gemäß § 43c der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO). Die genauen Anforderungen für die Verleihung der verschiedenen Fachanwaltsbezeichnungen sowie das Verfahren zur Erlangung dieser Titel sind in der Fachanwaltsordnung (FAO) detailliert geregelt.

Die erste Fachanwaltschaft

Die erste Fachanwaltschaft wurde bereits im Jahr 1937 für das Steuerrecht eingeführt. Nach einer vorübergehenden Änderung im Jahr 1941, als die Bezeichnung „Fachanwalt für Steuerrecht“ durch „Rechtsanwalt – Steuerberater“ ersetzt wurde, wurde die Fachanwaltsbezeichnung „Fachanwalt für Steuerrecht“ bereits 1947/48 von der Vereinigung der Vorstände der Rechtsanwaltskammern der Britischen Zone erneut eingeführt. Dies geschah, um die speziellen Fachkenntnisse im Bereich des Steuerrechts hervorzuheben und eine Benachteiligung gegenüber dem Beruf des Steuerberaters zu verhindern (siehe BVerfG, Beschluss vom 13.05.1981 – 1 BvR 610/77, 451/80).

Im Jahr 1986 führte der Bundesgesetzgeber in der Bundesrepublik die Fachanwaltschaften für Arbeitsrecht, Sozialrecht und Verwaltungsrecht ein. Diese Entscheidung basierte auf der Existenz von spezialisierten Gerichtsbarkeiten und den komplexen Verfahrensregeln in diesen Bereichen, die eine besondere rechtliche Expertise erforderten. 

Die Diskussionen über weitere notwendige Spezialisierungen führten zur Einführung zusätzlicher Fachanwaltschaften. Seit 1994 hat die Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer gemäß § 43c BRAO die Befugnis, neue Fachanwaltschaften durch Satzung zu schaffen. Im Jahr 1997 wurden die Fachanwaltschaften für Familienrecht und Strafrecht eingeführt, gefolgt von der für Insolvenzrecht im Jahr 1999 und einer Reihe weiterer Fachanwaltschaften seit 2003.

Seit dem 1. Juli 2019 gibt es insgesamt vierundzwanzig verschiedene Fachanwaltsbezeichnungen für verschiedene Rechtsgebiete:

  • Agrarrecht, § 14m FAO
  • Arbeitsrecht, § 10 FAO
  • Bank- und Kapitalmarktrecht, § 14l FAO
  • Bau- und Architektenrecht, § 14e FAO
  • Erbrecht, § 14f FAO
  • Familienrecht, § 12 FAO
  • Gewerblicher Rechtsschutz, § 14h FAO
  • Handels- und Gesellschaftsrecht, § 14i FAO
  • Informationstechnologierecht, § 14k FAO
  • Insolvenzrecht, § 14 FAO
  • internationales Wirtschaftsrecht, § 14n FAO
  • Medizinrecht, § 14b FAO
  • Miet- und Wohnungseigentumsrecht, § 14c FAO
  • Migrationsrecht, § 14p FAO
  • Sozialrecht, § 11 FAO
  • Sportrecht, § 14q FAO
  • Steuerrecht, § 9 FAO
  • Strafrecht, § 13 FAO
  • Transport- und Speditionsrecht, § 14g FAO
  • Urheber- und Medienrecht, § 14j FAO
  • Vergaberecht, § 14o FAO
  • Verkehrsrecht, § 14d FAO
  • Versicherungsrecht, § 14a FAO
  • Verwaltungsrecht, § 8 FAO.

Die Vorteile der Einführung der Fachanwaltstitel

Die Schaffung der Fachanwaltstitel ist im Vergleich zum EU-Ausland und der übrigen Welt einzigartig. Doch die Einführung der Fachanwaltstitel war ein großer Beitrag zur Qualitätssteigerung. Ein Rechtsanwalt befasst sich seither nicht mehr mit allen Rechtsgebieten, sondern nur noch mit einem und kann so seine Fähigkeiten in diesem einen Rechtsgebiet signifikant verbessern. Schnell stellten die Fachanwälte fest, dass die deutschen Gerichte mit dieser Qualitätssteigerung nicht Schritt halten konnten. Dies wurde oft und immer lautstärker bemängelt. Deutsche Gerichte waren bis vor kurzem nur ganz gering spezialisiert. Wie sich das ändert, wird in einem anderen Beitrag zu dieser Beitragsserie aufgeführt.

Jedenfalls zeigt der Vergleich mit anderen Staaten wie beispielsweise mit Österreich und der Schweiz, dass die Einführung von Fachanwaltschaften eine signifikante Qualitätssteigerung bei der Rechtsberatung mit sich gebracht hat. Obwohl die Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen der beiden Nachbarstaaten gleich begabt sind wie deren deutschen KollegInnen, ist die Fähigkeit, Rechtsprobleme in Spezialgebieten zu lösen, bei den deutschen Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen deutlich stärker ausgeprägt.

Für einen Rechtsstaat ist es hierbei nicht unbedeutend, dass die Personen, die mit den Gesetzen zu tun haben, diese auch kennen. Fachanwälte haben besondere Kenntnis in ihren Fachgebieten. Deutschland hat demnach mit der Einführung der Fachanwaltschaften einen sehr großen Beitrag zur Festigung des Rechtsstaats geleistet.