Wie ein Jurastudent 100.000 Euro und sechs Monate Urlaub erkämpfte
Ein Kellnerjob, ein paar Gläser Bier – und ein Rechtsstreit, der in keinem Lehrbuch fehlen wird. Was ein Münchner Jurastudent als Nebenjob begann, endete vor dem Landesarbeitsgericht München mit einem Paukenschlag: Kündigung unwirksam, Schadensersatz und Lohn in Höhe von knapp 100.000 Euro, sechs Monate Urlaub und eine schriftliche Entschuldigung des Arbeitgebers. Das Urteil v. 04.06.2025, zum Aktenzeichen 11 Sa 456/23 ist nicht nur ein Sieg für den Kläger – es ist ein Lehrstück darüber, wie teuer Betriebsratsverhinderung werden kann.
Die Geschichte beginnt harmlos, ja beinahe banal. Schichten per WhatsApp, Stundenlohn plus Trinkgeld, vergünstigte Mahlzeiten – der klassische Gastro-Nebenjob. Doch unter der Oberfläche brodelte es: unbezahlte Vor- und Nacharbeiten, pauschales „Gläsergeld“ von zwei Euro pro Schicht, selbst zu tragende Reinigungskosten für vorgeschriebene Dienstkleidung.
Als der Betriebsrat ins Spiel kam
Dann wagte der Student, was in vielen Betrieben für Nervosität sorgt: Er initiierte eine Betriebsversammlung zur Wahl eines Betriebsrats. Was folgte, war ein Gastronomie-Drama in mehreren Akten. Erst wurden seine Schichten gestrichen, dann sollte er statt an der Bar in der Küche schuften. Als er das verweigerte, kam die fristlose Kündigung – begründet mit „beharrlicher Arbeitsverweigerung“. Im Schriftsatz ließ sich der Arbeitgeber zu einer pikanten Formulierung hinreißen, dort hieß es. Der Student sei „jung, ohne Kinder, ohne Unterhaltspflichten“.
Die zweite Instanz bringt die Wende
Vor dem Arbeitsgericht München konnte der Student die Kündigung bereits kippen, ging aber mit leeren Händen bei den Zahlungsansprüchen nach Hause. Doch er legte Berufung ein – und die zweite Instanz machte kurzen Prozess. Das LAG München holte zum Rundumschlag aus: Der Arbeitgeber sei nicht nur im Annahmeverzug gewesen (§ 615 BGB), sondern habe den Kläger systematisch ausgebremst, um die Betriebsratsgründung zu verhindern – ein klarer Verstoß gegen § 20 Abs. 2 BetrVG. Folge: Schadensersatzpflicht nach § 823 Abs. 2 BGB.
Was Arbeitgeber teuer zu stehen kommen kann
Die Summe kommt nicht von ungefähr: Sie umfasst Annahmeverzugslohn, vergessene Überstunden, Waschkosten, das einbehaltene Gläsergeld und – juristisch brisant – entgangene Trinkgelder, die das Gericht als ersatzfähigen Schaden nach § 252 BGB wertete. Das LAG setzte den Betrag mit 100 Euro pro Schicht an. Dazu kamen die Vorteile vergünstigter Speisen und Getränke, die als Naturallohn berücksichtigt wurden. Ein echter Dämpfer für Arbeitgeber, die bisher dachten: Trinkgeld ist „nice to have“, aber nicht einklagbar.
Insgesamt setzte sich der Schadensbetrag also aus folgenden Positionen zusammen:
- Annahmeverzugslohn für mehrere Monate
- Nachzahlungen zu nicht dokumentierten Überstunden
- Rückerstattung pauschaler Abzüge („Gläsergeld“)
- Waschkosten für Dienstkleidung
- Entgangene Trinkgelder (pauschal mit 100 Euro pro Schicht)
- Naturallohn-Vorteile durch vergünstigte Speisen und Getränke
Persönliche Haftung und schriftliche Entschuldigung
Und noch ein Knalleffekt: Der Geschäftsführer haftet persönlich – trotz GmbH-Mantel. Denn wer vorsätzlich die Wahl eines Betriebsrats behindert, verletzt ein Schutzgesetz. Damit greift die Durchgriffshaftung – und der Geschäftsführer steht mit seinem Privatvermögen in der Pflicht.
Der kreativste Teil des Urteils bildete wohl die gerichtlich angeordnete Entschuldigung. Ja, richtig gelesen. Weil die Bezugnahme auf Alter und Unterhaltspflichten als mittelbare Diskriminierung gewertet wurde (§ 3 Abs. 2 i. V. m. § 7 Abs. 1 AGG), ordnete das LAG eine schriftliche Entschuldigung an – gestützt auf ein EuGH-Urteil (Az.: C-507/23), das „Naturalrestitution“ als immateriellen Ausgleich zulässt.
72 Urlaubstage und ein fast vollständiger Klageerfolg
Weil der Arbeitgeber den Kläger nie über seine Urlaubsansprüche informierte, konnte dieser nach EuGH-Rechtsprechung (Az. C-684/16 „Max-Planck“, Az. C-120/21) über Jahre Anspruch ansammeln. Ergebnis: 72 Urlaubstage am Stück – und damit fast 29 Wochen bezahlte Freizeit.
Insgesamt umfasste die Klage 36 Anträge, von der Wiederaufnahme in die betriebliche WhatsApp-Gruppe bis hin zu Überstundenvergütung – und fast alles ging zugunsten des Studenten aus. Wer glaubt, Minijob heißt „Mini-Risiko“, sollte dieses Urteil zweimal lesen. Für den Jurastudenten war es ein Crashkurs in Arbeitsrecht, der sich mehr als ausgezahlt hat. Für Arbeitgeber ist es eine Mahnung: Betriebsratsverhinderung, pauschale Abzüge und Diskriminierung sind nicht nur rechtlich heikel – sie können richtig teuer werden.
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